KNOTEN
Was hat es mit dem Knoten auf sich?
Beim „Knoten“ handelt es sich um eine Plastik aus dem 3D-Drucker, die am Pfosten eines Straßenschildes angebracht wird. Die Idee der Kennzeichnung durch einen „Knoten“ ist aus einem Wettbewerb unter Studierenden hervorgegangen. Ursprünglich sollten die Markierungen nur anzeigen, dass zu den betreffenden Straßen gerade geforscht wird. „Da abzusehen war, dass die Forschungsarbeiten und die Arbeit der Kommission Zeit in Anspruch nehmen würden, wollte die Verwaltung die in der Diskussion stehenden Straßennamen im öffentlichen Raum kenntlich machen“, heißt es dazu im Abschlussbericht der Kommission zur Überprüfung der Tübinger Straßennamen. Zunächst wurden elf Straßen, die nach Personen benannt sind, die mit dem NS-Regime, mit Antisemitismus, Kriegsverbrechen oder Kolonialismus in Verbindung standen, auf diese Weise gekennzeichnet. Der „Knoten“ war als temporäre Markierung gedacht, die darauf hinweisen sollte, dass aktuell zu den betroffenen Namensgebern geforscht und anschließend diskutiert wird, ob die betroffenen Straßen umbenannt werden sollen oder nicht. Im Januar 2023 sprach sich die Kommission dann plötzlich dafür aus, u.a. die Clara-Zetkin-Straße dauerhaft mit einem „Knoten“ zu versehen. Mit dieser Empfehlung hat sie selbständig und entgegen ihrem Auftrag die Markierung als dritte Kategorie – zwischen „Umbenennen“ und „Beibehalten ohne gesonderte Markierung“ – eingeführt. Die Knoten kosten pro Stück inklusive Montage 480 Euro.
KOMMISSION
Was war denn das für eine Kommission?
Die Mitglieder der Kommission unter der Leitung von Privatdozent Dr. Johannes Großmann (Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen), der im Rahmen einer Lehrstuhlvertretung 2023 auch an der HU Berlin lehrte, waren Prof. Dr. Bernd-Stefan Grewe (Institut für Geschichtsdidaktik und Public History, Universität Tübingen), Dr. Regina Keyler (Leiterin des Archivs der Universität Tübingen), Prof. Dr. Silke Mende (Historisches Seminar, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Münster), Prof. Dr. Roland Müller (ehemaliger Leiter des Stadtarchivs Stuttgart), Prof. Dr. Boris Nieswand (Institut für Soziologie, Universität Tübingen) und Udo Rauch (Leiter des Stadtarchivs Tübingen). Diese Kommission sprach sich einstimmig für eine Markierung der Clara-Zetkin-Straße als „kritikwürdig“ aus. Außer Udo Rauch, der die Arbeit für die Kommission in seiner Dienstzeit durchgeführt hat, erhielten alle Mitglieder laut Angaben des Kulturamts eine Aufwandsentschädigung von 1000 Euro, Dr. Großmann habe für die Erstellung des Berichts, die Leitung und Koordination der Kommission, die Ausarbeitung von Diskussionspapieren und „die Überprüfung aller 1059 Straßennamen“ der Stadt zusätzlich 1.500 Euro erhalten.
DEBATTE
Wie kam es zu der Debatte um Straßennamen und insbesondere um die Clara-Zetkin-Straße in Tübingen?
Seit 2020 war die Kritik an Straßennamen in Tübingen verstärkt Thema, insbesondere durch einen Antrag aus der Gemeinderatsfraktion „Die Fraktion“, welcher die Stadtverwaltung mit der Überprüfung der Frage beauftragte, ob Eduard Haber, Eduard Spranger und Wilhelm Schussen „würdig sind, mit Straßennamen geehrt zu werden“. Unterstützt durch die SPD-Fraktion schlug die Stadtverwaltung ein mehrstufiges Verfahren vor. Zunächst sollte der von Dagmar Waizenegger geleitete Fachbereich Kunst und Kultur des Kulturamts überprüfen, ob neben den drei im Antrag genannten Straßennamen weitere Namen einer Untersuchung bedürfen. Das Kulturamt legte dann eine Liste mit elf Namen vor – Personen, die mit dem NS-Regime, mit Antisemitismus, Kriegsverbrechen oder Kolonialismus in Verbindung stehen. Eine Historiker-Kommission unter Leitung von Dr. Johannes Großmann wurde beauftragt, die Biografien dieser Personen wissenschaftlich zu prüfen. „Ihren Arbeitsauftrag habe die Gruppe selbst ausgeweitet, so Großmann, und sämtliche Tübinger Straßennamen unter die Lupe genommen“, berichtete das Schwäbische Tagblatt im Januar 2023, als die Kommission ihren Abschlussbericht vorlegte. In diesem wurden statt der ursprünglichen elf dann 18 Namensgeber als „kritikwürdig“ eingeordnet – darunter auch Clara Zetkin.
ZETKIN
Wer war Clara Zetkin? Was sind ihre Verdienste um die Demokratie und Gleichberechtigung?
Clara Zetkin (1857-1933) war eine deutsche Politikerin, Friedensaktivistin, Antifaschistin und Frauenrechtlerin. Bis 1917 war sie aktiv in der SPD, danach in der USPD und bei der KPD. Am bekanntesten ist Zetkin wohl für ihr Engagement in der Frauenbewegung. Sie setzte sich für das Frauenwahlrecht ein und ist die Initiatorin des Internationalen Frauentags. Sie war unter den ersten Frauen, die 1919 in die Verfassunggebende Landesversammlung in Stuttgart gewählt wurden; in dieser Funktion war sie eine der ersten Frauen überhaupt, die in einem deutschen Parlament eine Rede gehalten haben. Während des gesamten Bestehens des Parlaments der Weimarer Republik, von 1920 bis 1933, war sie als Abgeordnete im Reichstag vertreten. Als Alterspräsidentin des Parlaments hat Zetkin bis zuletzt gegen den an die Macht drängenden Faschismus gekämpft und die bürgerliche Demokratie vor Angriffen von rechts in Schutz genommen. Der Abschlussbericht der Kommission legt nahe, Zetkin mit den übrigen untersuchten Personen – die im Zusammenhang mit Faschismus und Kolonialverbrechen kritisiert werden – in einen Topf zu werfen. Im Gegensatz zu den rechten Demokratiefeinden rührte Zetkins kritische Haltung zur bürgerlichen Demokratie jedoch daher, dass sie auf der vollständigen Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität beharrte – das ist ein entscheidender Unterschied.
REGION
Was hat Clara Zetkin eigentlich mit Tübingen und der Region zu tun?
Nach der Rückkehr aus dem Exil in Frankreich 1890 bezog Clara Zetkin mit ihren beiden Söhnen zunächst eine Dachgeschosswohnung in der Rotebühlstr 147 in Stuttgart. 1899 heiratete sie den 18 Jahre jüngeren Kunstmaler Friedrich Zundel. Sie hatten zunächst eine gemeinsame Wohnung in der Stuttgarter Blumenstraße 34, dann zogen sie in ein neugebautes Landhaus in der Kirchheimer Straße 14 in Stuttgart-Sillenbuch. Dieses Haus entwickelte sich schnell zum Treffpunkt vieler Gleichgesinnter; auch Lenin war hier zu Gast, für einige Zeit wurde hier sogar ein Matrose des legendären Panzerkreuzers Potemkin versteckt. Im Jahr 1909 war Clara Zetkin Mitbegründerin des Waldheims in Stuttgart-Sillenbuch, das seit 1972 Clara-Zetkin-Haus heißt. Zundel verließ Zetkin für Paula Bosch, die Tochter des Industriellen Robert Bosch; die beiden lebten im von Zundel selbst entworfenen „Berghof“ (Villa Zundel) unweit der heutigen Clara-Zetkin-Straße im Tübinger Stadtteil Lustnau und sind auf dem Stadtfriedhof begraben. Ihr Sohn, der Physiker Georg Zundel, war friedenspolitisch engagiert und gründete die Berghof Foundation, eine Stiftung für Konfliktforschung. Die Kunsthalle Tübingen wurde im Gedenken an Friedrich Zundel und zur Unterbringung seiner Werke gegründet. Wie der Tagblatt-Anzeiger 2007 berichtete, musste sich Clara Zetkin 1919 in einer Wohnung in der Tübinger Neckargasse 4a verstecken, weil Rechtsradikale einen Mordanschlag auf sie geplant hatten. Dort sei sie etwa eine Woche geblieben, heißt es in einer 2022 erschienenen Biografie über Felix Weil, der die Rettungsaktion koordiniert hatte. Weil, damals politisch aktiver Student in Tübingen, 1924 dann Mitgründer der „Frankfurter Schule“, berichtete über Zetkins Rückkehr nach Sillenbuch: „Als wir mit Clara zurückkamen, hatte jemand alle Fenster mit Steinen eingeworfen. Wahrscheinlich aus Wut, dass das Haus leer war. Clara, meine alte mütterliche Freundin, hat mich später oft als ihren Lebensretter bezeichnet.“
BENENNUNG
Wie kam es zur Benennung der Clara-Zetkin-Straße?
„Bereits 1976 hatte Stadtrat Gerhard Bialas im Namen der DKP-Fraktion im Tübinger Gemeinderat die Umbenennung der Saarstraße in Lustnau in ‚Klara-Zetkin-Straße‘ vorgeschlagen, unter Verweis auf ihre Funktion als letzte Alterspräsidentin des Reichstags. Dem Vorschlag war damals jedoch nicht zugestimmt worden“, heißt es im Abschlussbericht der Kommission. Erst als im Neubaugebiet auf dem Herrlesberg mehrere Straßen nach berühmten Frauen benannt wurden, wurde Zetkin ebenso wie Gertrud Bäumer für ihre Verdienste um die Frauenbewegung geehrt. Die Clara-Zetkin-Straße – eine Sackgasse mit 15 Hausnummern – erhielt ihren Namen am 29. April 1985. Sie befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Rosa-Luxemburg-Straße.
BEDEUTUNG
Welche Bedeutung hätte die Markierung der Clara-Zetkin-Straße mit so einem Knoten gehabt?
Alle Namensgeber der ursprünglich elf Straßen mit „Knoten“ sind politisch rechts zu verorten. Dasselbe gilt auch für sämtliche Straßennamen, die der Empfehlung der Kommission zufolge eine solche Markierung bekommen sollten. Bei den betroffenen Personen nannte die Kommission als ethisch problematisch deren Antisemitismus, Mitwirkung am NS-Regime, Justiz- und Kriegsverbrechen, Rassismus, Kolonialismus, Autoritarismus und Demokratiefeindlichkeit. Clara Zetkin wurde also in eine Reihe gestellt mit den Faschisten, gegen die sie ankämpfte. Besonders merkwürdig erschien, dass die Kommission bei zwei Straßen, die nach NSDAP-Mitgliedern benannt sind, empfahl, bereits angebrachte Knoten kommentarlos wieder zu entfernen.
GEFAHR
Was ist die Gefahr daran, Clara Zetkin in eine Reihe mit Faschisten, Kriegs- und Kolonialverbrechern zu stellen?
Clara Zetkin war eine entschiedene Kritikerin und Gegnerin von Faschismus, Krieg und Kolonialismus. Zum Kampf gegen den Faschismus rief sie schon 1923 auf. Sie musste mehrfach um ihr Leben bangen, da rechte Terrororganisationen sie ermorden wollten. Bei der Reichstagswahl 1932 kam die KPD auf 89 Sitze, die NSDAP auf 230. Clara Zetkin war die älteste Abgeordnete und hatte somit als Alterspräsidentin das Recht, den Reichstag am 30. August zu eröffnen. In der NS-Presse wurde sie unter anderem als „Sau“ beschimpft, in der KPD-Zentrale ging ein anonymer Brief ein, in dem gedroht wurde, dass man die „rote Brut“ von der Tribüne holen werde. Zetkin aber meinte: „Ich werde kommen, tot oder lebendig.“ Und so rief sie in ihrer Eröffnungsrede im Reichstag noch einmal zur Einheitsfront gegen den Faschismus auf. Ausgerechnet sie, die bereits 1923 Vorsitzende eines internationalen Komitees zur Bekämpfung des Faschismus wurde und sich seither unermüdlich gegen den Faschismus und für dessen Opfer engagierte, in einem Atemzug mit Faschisten zu nennen, verbietet sich, wie die VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten) Baden-Württemberg betonte. Die Organisation unterstützte unser Bündnis und schrieb, „dass jedwede Gleichstellung von Antifaschistinnen und Antifaschisten mit den Verbrechern und Profiteuren des Naziregimes eine untragbare und überaus gefährliche Form des Geschichtsrevisionismus darstellt“.
VON WEM?
Von wem kam der Vorschlag, die Biografie Clara Zetkins durchleuchten zu lassen?
Bei der Podiumsdiskussion „Ein Knoten für Clara Zetkin?“ im März 2023 (Mitschnitt) wurden die Kommissions-Vertreter Großmann und Grewe aus dem Publikum heraus mehrmals gefragt, wer überhaupt auf die Idee gekommen sei, Clara Zetkin ins Spiel zu bringen. Anstatt konkret zu antworten, wichen sie aus – man könne sich nicht mehr genau erinnern – und betonten lediglich, dass die Kommission sich einstimmig für eine Markierung der Clara-Zetkin-Straße ausgesprochen habe. Im Abschlussbericht der Kommission heißt es: „In einer kursorischen Gesamtbetrachtung und vergleichenden Analyse überprüfte der Vorsitzende der Kommission alle 1059 Tübinger Straßennamen und glich sie mit der Auswahl des Kulturamts ab. Dabei erwiesen sich neben den elf Namen der ,Shortlist‘ weitere 76 Namen als ,problematisch‘. Zu ihnen wurden ergänzende Informationen eingeholt. Auch wurde überprüft, ob es bereits an anderen Orten bzw. in anderen Zusammenhängen Diskussionen über sie gegeben hat. Die Bearbeitung dieser ‚Longlist‘ ergab zusätzlichen Untersuchungsbedarf bei folgenden sieben Biografien: Theodor Dobler, Ernst von Fürst, Ludwig Krapf, Wilhelm Mönch, Emil Nolde, Albrecht von Württemberg und Clara Zetkin.“
BEGRÜNDUNG
Womit begründete die Kommission ihre Kritik an Zetkin?
Die Kommission behauptete, Zetkin habe 1922 in einem Prozess in Moskau für Todesstrafen plädiert. Dafür gibt es aber keine belastbaren Belege. Unser Aktionsbündnis zeigte, dass die Behauptungen, auf denen die Empfehlung an den Tübinger Gemeinderat beruhte, wissenschaftlich nicht haltbar waren. In unserem Fact Sheet zum Thema haben wir unter Nennung nachprüfbarer Quellen belegt, dass die Kommission historisch nicht korrekt gearbeitet hat. Die Behauptungen, die gegen Zetkin vorgebracht wurden, waren teils objektiv falsch und ließen sich sogar mit Quellen, welche die Kommission selbst angeführt hatte, widerlegen. So setzte Zetkin sich, anders als im Abschlussbericht dargestellt, im Prozess 1922 gegen die Vollstreckung von Todesurteilen ein.
UND WILHELM?
Weshalb sollte ausgerechnet die Clara-Zetkin-Straße einen „Knoten“ verpasst bekommen, aber etwa die Wilhelm- oder die Bismarckstraße nicht?
Die Entscheidung der Kommission, welche Straßen mit „Knoten“ versehen werden sollen und welche nicht, erscheint willkürlich; bei der Podiumsdiskussion „Ein Knoten für Clara Zetkin?“ im März 2023 (Mitschnitt) waren die beiden anwesenden Kommissions-Mitglieder Großmann und Grewe nicht in der Lage, nachvollziehbare Gründe für ihre Entscheidung zu nennen. Was aber bei Zetkin nur behauptet wurde, ohne belegt werden zu können, trifft beispielsweise auf Wilhelm I. von Württemberg zweifelsfrei zu: Tübingens repräsentativste Straße ist nach einem Monarchen benannt, der die bürgerliche Revolution 1848/49 niederschlagen ließ, Volksvertretungen generell ablehnte (er wollte das Volk „vom periodischen Fieber der Wahlen befreien“) und die Prügel- und Todesstrafe wieder einführte. Anders als bei Zetkin sah die Kommission laut ihrem Abschlussbericht bei Wilhelm aber „keine konkreten Hinweise auf eine ethische Problemlage“ – ein Skandal. Die Tübinger Lokalpresse bezeichnete deshalb den Vorschlag der Kommission im März 2023 als „Posse“ und forderte: „Lieber ein Knoten für Bismarck oder Ebert“. Bismarck war nicht nur ein vehementer Verfechter der Todesstrafe und hat deren Abschaffung persönlich verhindert, er erließ auch die antidemokratischen, repressiven Sozialistengesetze, aufgrund derer Ossip und Clara Zetkin ins Exil nach Paris mussten, wo sie unter äußerst bescheidenen Bedingungen lebten – was zur Folge hatte, dass Ossip Zetkin an Tuberkulose erkrankte und starb. Bismarck war „ein erklärter Gegner des Parlamentarismus, Erfinder der Sozialistengesetze, Militarist, Antisemit und Kolonialherrscher. Noch heute streiten seine Erben um koloniale Beutestücke. Nach dem ‚eisernen Kanzler‘ ist die längste Straße Tübingens benannt. Sie bleibt knotenfrei“, kritisierte die Tübinger Linke im Juni 2023. Bei der Gemeinderatssitzung am 26. Oktober stimmte eine knappe Mehrheit überraschenderweise für einen „Knoten“ für die Bismarckstraße. Der Wilhelmstraße wurde im Juni 2023 im Rahmen der von uns ausgerufenen Aktionswoche von Aktivisten symbolisch ein „Knoten“ verpasst.
EBERT
Und was ist mit Friedrich Ebert?
Unter Ebert wurde Rosa Luxemburg von rechten Freikorps ermordet – gänzlich ohne Prozess oder Todesurteil –, und zwar mit Wissen und Duldung der SPD-Regierung! Die enge Freundin Clara Zetkins hatte im November 1918 übrigens gefordert: „Die Todesstrafe, diese größte Schmach des stockreaktionären deutschen Strafkodex, muss sofort verschwinden!“ Ebert ließ sozialistische Aufstände mit Waffengewalt, oft unter Rückgriff auf rechtsradikale Freikorps, niederschlagen. Allein in den Berliner Märzkämpfen, in denen standrechtliche Erschießungen an der Tagesordnung waren und die Soldateska mit Feldgeschützen, Minenwerfern und Maschinengewehren gegen Wohnhäuser vorging und in denen sogar Flugzeuge mit Bomben eingesetzt wurden, starben bis zu 2000 Menschen. Was die „Achtung vor Menschenleben“ im Deutschland Eberts angeht, schreibt Zetkin selbst in Wir klagen an (1922) in Bezug auf die Münchner Räterepublik: „Vom 29. April bis 6. Mai 1919 sind in München standrechtlich oder völlig willkürlich erschossen worden: 505 Personen.“ Darunter seien auch drei Sanitäter gewesen sowie 53 kriegsgefangene Russen und 346 Zivilpersonen, denen nicht die geringste Kampfhandlung nachgewiesen werden hätte können. Eugen Leviné habe „nach einer standrechtlichen Gerichtskomödie das Todesurteil“ getroffen. Über dieses schreibt Zetkin: „Es wurde vollstreckt unter einer Regierung, in der die Sozialdemokraten, ‚die grundsätzlichen Gegner der Todesstrafe‘, die Mehrheit hatten.“ Ebert hielt es damals nicht für geboten, von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen, „um der berühmten bayerischen Empfindlichkeit nicht wehe zu tun“. Da Eberts Zweite Verordnung zum Schutze der Republik aus dem Juni 1922 selbst die Todesstrafe für „Personen, die an einer Vereinigung teilnehmen, von der sie wissen, daß es zu ihren Zielen gehört, Mitglieder einer im Amt befindlichen oder einer früheren republikanischen Regierung des Reichs oder eines Landes durch den Tod zu beseitigen vorsieht“, warf Zetkin der sozialdemokratischen Führung völlig zu Recht Inkonsequenz und Doppelmoral vor. Im Gegensatz zu Zetkin, die niemals für die Todesstrafe plädiert hat, haben Ebert und Wilhelm I. diese eingeführt bzw. selbst angeordnet. Für sie empfahl die Kommission aber keine „Knoten“. Wie kann das sein?
VORBILD
Wo gab es bereits ähnliche Debatten und Vorkommnisse?
In ihrem Abschlussbericht gibt die Kommission an, auch überprüft zu haben, ob es zu den aus ihrer Sicht „problematischen“ Namensgebern bereits an anderen Orten bzw. in anderen Zusammenhängen Diskussionen gegeben hat. Tatsächlich erinnert die Tübinger Debatte, wie auch Dr. Florence Hervé in ihrer Erklärung anmerkt, an die Umbenennung der Clara-Zetkin-Straße in Berlin-Mitte im Jahr 1995. In Ost-Berlin hieß seit 1951 die auf das Reichstagsgebäude zulaufende Parallelstraße zu Unter den Linden nach Zetkin. Nach der „Wende“ setzte der Berliner Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) 1993 eine Kommission zur Umbenennung von Straßen ein; deren Abschlussbericht von 1994 empfahl, die Straße nach einer Fürstin in Dorotheenstraße rückzubenennen, was trotz internationaler Proteste geschah. Damals war die erklärte Absicht, dass das Erbe der DDR im Stadtbild weniger sichtbar sein sollte. „Das Bonner Bundeskanzleramt unter Helmut Kohl griff persönlich ein, um zu verhindern, dass die Straße, die auf das Parlaments- und Regierungsviertel in Berlin zuläuft, nach der kommunistischen Abgeordneten und Alterspräsidentin des letzten Reichstages vor Hitlers Machtergreifung benannt bleibt“, berichtet Florence Hervé in ihrem Buch Clara Zetkin oder: Dort kämpfen, wo das Leben ist. In Marzahn-Hellersdorf, wo es seit 1987 einen Clara-Zetkin-Park gibt, provozierte diese Rückbenennung eine besondere Reaktion; auf einer Tafel im Park heißt es dazu: „Seit 1997 gibt es auch einen Clara-Zetkin-Platz und einen Clara-Zetkin-Weg in Berlin-Hellersdorf. Die Benennung erfolgte, nachdem 1995 die Clara-Zetkin-Straße am Reichstag in Berlin-Mitte trotz massiver Proteste nach der Kurfürstin Dorothea (1636-1689) rückbenannt worden war.“ In Stuttgart gab es 1997 einen Antrag der rechten Partei Die Republikaner, die Clara-Zetkin-Straße umzubenennen.
MOTIV
Was war die Motivation, neben Faschisten, Antisemiten und Kriegsverbrechern auch Zetkin als „kritikwürdig“ einzuordnen?
Darauf bekamen wir leider nie eine Antwort. Klar ist, dass der Bericht der Kommission in Bezug auf Zetkin wissenschaftlichen Standards nicht genügt. Über die Motive der Kommission kann man nur spekulieren. Deren Abschlussbericht berief sich auf die 20 Jahre zuvor erschienene Zetkin-Biographie von Tânia Puschnerat. Die Historikerin, die als Abteilungsleiterin beim Bundesamt für Verfassungsschutz und am gemeinsamen nachrichtendienstlichen Ausbildungszentrum von BND und Verfassungsschutz in Berlin tätig war, ist Anhängerin der Extremismus- und Totalitarismus-Theorie und versucht in ihrem Buch, das den Titel „Bürgerlichkeit und Marxismus“ trägt, Zetkin immer wieder mit rechten Ideologien in Verbindung zu bringen, etwa, indem sie angebliche „mentale Übereinstimmungen“ zwischen Zetkin und Rechten wie Ernst Jünger oder Carl Schmitt unterstellt. Dies wirkt mitunter unfreiwillig komisch; so rückt sie, weil Zetkin in einem Artikel im Vorwärts im Jahr 1910 einmal den Begriff „drittes Reich“ verwendet hat, die Sozialdemokratin in die Nähe des völkisch-nationalistischen Publizisten Arthur Moeller van den Bruck, dessen Werk „Das dritte Reich“, durch das dieser Terminus Eingang in den rechten Sprachgebrauch hielt, aber erst 1923 erschien – ein rein assoziatives, ahistorisches und ganz offensichtlich zutiefst ideologisch motiviertes Vorgehen. Als die Kommission zur Podiumsdiskussion „Ein Knoten für Clara Zetkin?“ im März 2023 (Mitschnitt) eingeladen wurde, versuchte sie zunächst, Tânia Puschnerat als „Expertin“ fürs Podium zu gewinnen – mit der Begründung, in der Kommission gäbe es keine Zetkin-Experten. Erst als Puschnerat ablehnte, nahmen die Kommissions-Mitglieder Großmann und Grewe teil. Dr. Johannes Großmann, der Vorsitzende der Kommission, wurde für seine Arbeit „Die Internationale der Konservativen“ von der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet; die Tageszeitung junge Welt berichtete im März 2023 außerdem von einem Forschungsprojekt Großmanns über die „globale antikommunistische Gemeinschaft“ der 1960er-Jahre. Dass Zetkin im Abschlussbericht der Kommission in einem Atemzug mit NSDAP-Mitgliedern wie Paul Schmitthenner genannt wird, kommentierte die Wochenzeitung Kontext im April 2023 folgendermaßen: „Siehe da, das Totalitarismus-Gespenst manifestiert sich in Tübingen in einem harten Knoten. Man könnte auf den Gedanken kommen, die Kommission habe überlegt: Jetzt haben wir so viele Rechte auf dem Knoten-Kieker, da muss sich doch wohl auch eine Linke beigesellen lassen. Damit die Waage halbwegs ausgelastet ist. Die Hufeisenenden sich zusammenfinden.“
BÜNDNIS
Was hat es mit dem Aktionsbündnis auf sich?
Das Bündnis entstand zu Beginn des Jahres 2023 auf Initiative von Tübinger Einzelpersonen nach einer Überprüfung der Behauptungen und Quellen über Zetkin im Abschlussbericht der Kommission. Zunächst wurden die Ergebnisse der Recherchen in einem Fact Sheet gesammelt und verbreitet. Das Interesse und die Empörung nahmen schnell zu, woraufhin sich das Aktionsbündnis „Kein Knoten für Zetkin“ gründete. Es wurde von über 25 Organisationen und Einzelpersonen unterstützt. Es handelte sich um ein breites Bündnis aus feministischen, antifaschistischen und friedenspolitischen Initiativen und Einzelpersonen, darunter auch die Clara-Zetkin-Gedenkstätte in Birkenwerder, das Clara-Zetkin-Haus in Stuttgart und das Clara-Zetkin-Museum in Wiederau. Auch die Zetkin-Expertin Dr. Florence Hervé unterstützte das Bündnis.
RESONANZ
Was hat das Bündnis erreicht? Wie war die Resonanz?
Schnell zeigte sich, dass der Angriff auf Zetkin aus verschiedenen Gründen als unangemessen und empörend empfunden wurde. So erfuhr das Bündnis von Anfang an großen Zuspruch und Unterstützung, auch überregional. Diskussionen und eine Vielzahl anderer Veranstaltungen rund ums Thema, wie etwa Lesungen und Theateraufführungen, fanden statt. Im Juni 2023 gab es eine Aktionswoche, die für einige Aufmerksamkeit sorgte. Insgesamt war das Pressecho für ein lokales Thema enorm. Während das Interesse der Öffentlichkeit groß war, ignorierten Kommission und Stadtverwaltung unsere Rechercheergebnisse einfach. Unser Fact Sheet hatten beide im Februar erhalten; eine direkte Antwort darauf bekamen wir nie. Und das, obwohl laut Kommission und dem zuständigen Kulturamt angeblich eine Diskussion gewünscht war. So heißt es im Abschlussbericht: „Ziel ihrer Arbeit und des vorliegenden Berichts ist nach einhelliger Meinung der Kommission kein ,Schlussstrich‘ unter die Debatte, sondern vielmehr die Anregung einer möglichst breiten und sachlichen, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden (stadt)öffentlichen Diskussion.“ Als es diese Diskussion dann gab, reagierten Kommission und Kulturamt aber leider nicht auf wissenschaftliche Argumente. Als der Protest nicht mehr ignoriert werden konnte, wurde versucht, ihn zu diskreditieren. Dazu wurde vom Kulturamt beispielsweise eine angebliche Flut beleidigender Einsendungen erfunden. In der Gemeinderatssitzung am 26. Oktober 2023 hieß es vonseiten des Kulturamts allen Ernstes, die Argumente unseres Bündnisses seien „keine fundierte Gegendarstellung, da sie von Personen kommen, die nicht an den Universitäten forschen“. Dass versucht wurde, das Aktionsbündnis öffentlich in Misskredit zu bringen, zeigt, dass man uns auf der argumentativen Ebene nichts entgegenzusetzen hatte.
ZIEL
Was war das Ziel des Bündnisses? Wurde dieses erreicht?
Der Zweck unseres Aktionsbündnisses war es, zu verhindern, dass die Clara-Zetkin-Straße mit einem „Knoten“ als „kritikwürdig“ markiert und Clara Zetkin so in die Nähe der Faschisten gerückt wird, gegen die sie kämpfte. Dass die Kommission und die Stadt Tübingen keine Unterscheidung zwischen Faschismus und Antifaschismus treffen wollten, fanden wir verheerend. Das erklärte Ziel unseres Bündnisses ist erreicht worden und wurde sogar übertroffen: In der Gemeinderatssitzung am 26. Oktober 2023 wurde mit 20 von 32 Stimmen beschlossen, dass die Tübinger Clara-Zetkin-Straße nicht mit einem „Knoten“ markiert wird, zudem beschloss der Rat mit knapper Mehrheit einen „Knoten“ für die Bismarckstraße – letztere war von Kommission und Stadt nie zur Markierung empfohlen worden. Auch ein nicht explizit benanntes Ziel unseres Bündnisses wurde verwirklicht: Clara Zetkin und das, wofür sie steht, wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Im Oktober 2023 schrieb das Schwäbische Tagblatt, dass Zetkin durch den Protest „innerhalb kürzester Zeit zur bekanntesten Namensgeberin einer Tübinger Straße avancierte“.