EINGABE

HINTERGRUND

Die Kommission zur Überprüfung der Tübinger Straßennamen hat am 21. September eine Stellungnahme an den Stadtrat und die Presse verschickt, in der uns uninformierte und unsachliche Kritik und persönliche Diffamierungen unterstellt werden. Aufgrund des Verhaltens von Kommission und Kulturamt sieht das Bündnis sich gezwungen, einige Dinge richtigzustellen, und hat deshalb in Reaktion darauf ebenfalls eine Stellungnahme verfasst. Diese ist am 26. September offiziell von der Linksfraktion an die Geschäftsstelle des Gemeinderates übergeben worden, die sie an die Ratsmitglieder verschickt hat. – Unsere Eingabe als PDF.

EINGABE

Stellungnahme des Aktionsbündnisses „Kein Knoten für Zetkin“ zur Vorlage 226/2023 des Kulturamts und zur Stellungnahme der Kommission vom 21.9.

Wir protestieren weiterhin gegen den Versuch, die Clara-Zetkin-Straße mit einem „Knoten“ zu markieren, und stellen die sachliche Richtigkeit des Kommissionsberichts, auf dem diese Empfehlung beruht, in Frage.

Clara Zetkin war Vorkämpferin für die Gleichberechtigung der Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft, gegen Krieg und Nationalismus, gegen Kolonialismus und Rassismus, gegen Faschismus und Antisemitismus. Ob ihres Engagements wurde sie verfolgt, schikaniert und bedroht. Sie musste sich beispielsweise 1919 in der Tübinger Neckargasse verstecken, weil Rechtsradikale einen Mordanschlag auf sie geplant hatten. Unermüdlich hat sie gegen die Nazis in Deutschland gekämpft. Als Alterspräsidentin des Reichstags rief sie noch 1932 unter Einsatz ihres Lebens in einer letzten Rede zum vereinten Widerstand gegen den Faschismus auf. Wir können nicht zulassen, dass ausgerechnet sie in Tübingen in eine Reihe mit den anderen Knotenträgern gestellt wird – alles rechte Demokratiefeinde, Rassisten, Antisemiten, und Personen, die wegen ihrer Beteiligung am deutschen Faschismus und Kriegsverbrechen in der Kritik stehen! Gleichzeitig sollen bei der Süßerstraße in Pfrondorf und dem Wilhelm-Mönch-Weg in Unterjesingen die bereits angebrachten Knoten sogar kommentarlos wieder entfernt werden, obwohl die Namensgeber NSDAP-Mitglieder waren. Das bedeutet nicht nur eine Herabwürdigung des feministischen und emanzipatorischen Engagements von Clara Zetkin, sondern zugleich eine Relativierung von Faschismus und Rassismus. Währenddessen bleiben patriarchale Herrscher wie Bismarck, König Wilhelm und Konsorten weiterhin unangetastet – obwohl an ihren Händen das Blut vieler Menschen klebt. Dies wäre in Zeiten des gesellschaftlichen Rechtsrucks ein fatales politisches Signal! Die Behauptung, der Knoten sei keine Negativbewertung, ist unhaltbar: Dem Abschlussbericht der Kommission zufolge soll der Knoten bei Zetkin symbolisieren, dass sie wegen „Demokratiefeindlichkeit“ und „Mitwirkung an Justizverbrechen“ in der Kritik steht.

Ihren Bericht hat die Kommission im Januar veröffentlicht. Im Februar haben wir den Kommissionsmitgliedern und dem Kulturamt unser Fact Sheet geschickt, in dem wir die Vorwürfe gegen Zetkin mit historischen Quellen widerlegen. Eine direkte Antwort darauf haben wir bis heute nicht bekommen. Auf unsere Nachfragen wird, wenn überhaupt, ausweichend reagiert. Anstatt die fehlerhaften Behauptungen zuzugeben und zu revidieren, wird versucht, sich aus der Affäre zu ziehen. Zum Beispiel hat die Stadt im Mai das Online-Formular zum „Mitdiskutieren“ von ihrer Website entfernt und kritische Stellungnahmen, die bereits eingegangen waren, kommentarlos gelöscht – und das, während die Verantwortlichen behaupten, sie würden eine offene, öffentliche und sachliche Debatte anstoßen wollen.

Die Stellungnahme der Kommission vom 21. September unterstellt uns uninformierte und unsachliche Kritik am Bericht und persönliche Diffamierungen. Das Aktionsbündnis hat jedoch nie jemanden diffamiert, sondern ausschließlich sachlich und mit Verweis auf nachprüfbare historische Quellen argumentiert – also ganz so, wie es sich die Kommission gewünscht hatte. Ein Zitat aus dem Abschlussbericht: „Ziel ihrer Arbeit und des vorliegenden Berichts ist nach einhelliger Meinung der Kommission kein ,Schlussstrich‘ unter die Debatte, sondern vielmehr die Anregung einer möglichst breiten und sachlichen, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden (stadt)öffentlichen Diskussion erinnerungsgeschichtlicher und geschichtspolitischer Themen.“ – Nun sieht sich die Kommission offenbar von sachlicher Kritik und von der Anführung historischer Quellen persönlich angegriffen. Sie bestreitet, eine „politische Agenda verfolgt“ zu haben – sie sei neutral und objektiv. Wenn wissenschaftliche Neutralität heißt, offen für Argumente zu sein, dann entspricht die Kommission aus unserer Sicht ihrem eigenen Anspruch nicht.

Im Abschlussbericht der Kommission heißt es über Zetkin: „So plädierte sie im Sommer 1922 als Anklägerin im Moskauer Schauprozess für die (letztlich nicht vollstreckte) Todesstrafe gegen eine Gruppe sogenannter Sozialrevolutionäre.“ – Diese haltlose Behauptung wurde in der Beschlussvorlage des Kulturamts nun gestrichen. Stattdessen wird dort nur noch behauptet, Zetkin habe sich „als Anklägerin mit diesem Urteil solidarisch“ erklärt. Doch auch diese Behauptung ist irreführend und falsch. Clara Zetkin hat sich, wie zahlreiche historische Quellen belegen, im Rahmen des Prozesses stets gegen drohende Todesurteile eingesetzt.

Die Kommission zitiert aus einer 94 Seiten starken Publikation Zetkins mit dem Titel Wir klagen an (1922), die nach dem Prozess erschienen ist. Am Ende dieses Buches schreibt Zetkin im Namen der Kommunistischen Internationale (KI): „Wir stehen solidarisch zu dem Urteil des Obersten Revolutionsgerichts und zu der Entscheidung der Sowjetregierung“; den Teil „und zu der Entscheidung der Sowjetregierung“, der sich auf den Beschluss bezieht, die Todesurteile auszusetzen, verschweigt die Kommission – ein unwissenschaftliches und manipulatives Vorgehen. Bereits ganz vorne im Buch heißt es, die KI stehe „zu dem Spruch des Obersten Revolutionsgerichts gegen die angeklagten Sozialrevolutionäre und zu dem Beschluß der Sowjetregierung, nach dem die ausgesprochenen Todesurteile nicht vollstreckt“ würden. Wir halten fest: Das Zitat stammt gar nicht aus der Rede, die Zetkin im Sommer 1922 gehalten hat – sie hätte sich ja auch schlecht vor der Urteilsverkündigung mit dem noch gar nicht gesprochenen Urteil „solidarisch“ erklären können –, Zetkin spricht hier auch nicht für sich selbst, sondern im Auftrag der KI, das heißt für die Gesamtheit der kommunistischen Parteien weltweit, und wo Letztere sich mit dem Urteil „solidarisch“ erklärten, geschah dies ausschließlich in direktem Zusammenhang mit dem Hinweis auf die Aussetzung der Todesstrafen.

Zetkin hat also niemals Todesurteilen das Wort geredet – weder hat sie im Voraus dafür plädiert, noch hat sie sie später einfach gutgeheißen. Die Tatsache, dass sie sich im Rahmen des Prozesses, wie in der Beschlussvorlage des Kulturamts auch eingeräumt wird, sogar vehement dafür einsetzte, „dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wurde“, wird weiterhin marginalisiert. Faktisch hat sie mit ihrer Teilnahme und ihrem persönlichen Engagement im Prozess dafür gesorgt, dass die Angeklagten vor Todesstrafen verschont blieben – sie setzte sich, unter anderem in einem Brief an die russische Regierung, der im Original erhalten ist, für die Aussetzung der Todesurteile ein und überzeugte Leo Trotzki und die anderen Entscheidungsträger davon. Zahlreiche weitere historische Quellen bestätigen das. Auch Trotzki selbst berichtet 1930 in seiner Autobiografie, Zetkin habe ihm gegenüber darauf „bestanden“, man müsse „das Leben der Angeklagten schonen“. Das Resultat ihrer Teilnahme an diesem Prozess war also, dass die Angeklagten vor der Todesstrafe bewahrt wurden! Diese Begebenheit in Zetkins Biografie und ihre Rolle darin wird verdreht dargestellt und gegen sie verwendet.

Das Kulturamt möchte die Entscheidung über die „Knoten“ im Fachausschuss für Kultur, Bildung und Soziales schon am 5. Oktober fällen lassen. In seiner Beschlussvorlage, welche die Knoten-Markierung für Zetkin empfiehlt, ist auffällig, dass der Teil über Clara Zetkin sich plötzlich in wesentlichen Punkten völlig von der Darstellung im Abschlussbericht der Kommission und auf der Website der Stadt unterscheidet. Es ist offensichtlich, dass in dem Antrag versucht wurde, die Kritikpunkte unseres Aktionsbündnisses rhetorisch zu umschiffen. Das Lavieren des Kulturamts zeigt, dass unsere Kritik sehr wohl zur Kenntnis genommen wurde – eine öffentliche Korrektur der ursprünglichen Behauptungen gab es aber trotzdem nicht. Da stellt sich die Frage: Können die Behauptungen über Zetkin im Kommissionsbericht jetzt als überholt angesehen werden? Will die Stadt, ohne dass die Öffentlichkeit darüber informiert wird, den Ausschuss über etwas anderes entscheiden lassen, als ursprünglich zur Diskussion gestellt und auch monatelang diskutiert wurde? Wäre das nicht undemokratisch?

Apropos undemokratisch: In der Vorlage wird Zetkin vorgeworfen, sie habe sich „gegen die demokratischen Prinzipien der Weimarer Republik“ gewandt. Fest steht: Die bürgerliche Demokratie stellt gegenüber der Herrschaft von König, Kaiser und Kirche einen wichtigen Fortschritt dar; das hat auch Zetkin so gesehen. Sie war die erste Frau überhaupt, die in einem deutschen Parlament eine Rede gehalten hat. Während des gesamten Bestehens des Parlaments der Weimarer Republik, von 1920 bis 1933, war sie als Abgeordnete im Reichstag vertreten. Bis zuletzt hat sie gegen den an die Macht drängenden Faschismus gekämpft und die bürgerliche Demokratie vor Angriffen von rechts in Schutz genommen. Sie riskierte ihr eigenes Leben, um sie gegen die drohende faschistische Barbarei zu verteidigen. Wo Zetkin Kritik an der bürgerlichen Demokratie übte, rührte diese, im Gegensatz zu den rechten Demokratiefeinden, daher, dass sie auf der vollständigen Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität beharrte – das ist ein entscheidender Unterschied! Zetkin wollte nicht weniger, sondern mehr Demokratie. 1918 schrieb sie: „Die politische Gleichberechtigung, die politische Demokratie, bleibt eine formale, äußerliche und unvollkommene Sache, solange sie nicht die wirtschaftliche Gleichheit als Grundlage hat. Diese feste, unerschütterliche Grundlage ist in der bürgerlichen Ordnung des Kapitalismus nicht vorhanden.“ – In dieser Hinsicht empfand sie eine Veränderung der bestehenden Ordnung als notwendig und wünschenswert, und sie begrüßte die Oktoberrevolution in Russland als Versuch, die bestehenden kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse zu überwinden. Eine „Einparteiendiktatur“, wie vom Kulturamt behauptet, hat Zetkin nicht gefordert – vielmehr ein demokratisches Rätesystem. Noch 1932 wünschte sie sich in ihrer antifaschistischen Rede als Alterspräsidentin des Reichstags für Deutschland einen „Rätekongreß“.

In der Weimarer Republik wurden übrigens tausende Linke, die für eine bessere Gesellschaft stritten, umgebracht, oft unter Rückgriff auf rechte Freikorps; darunter war auch Zetkins enge Freundin und Genossin Rosa Luxemburg, die mit Wissen und Duldung der SPD-Regierung und ganz ohne Prozess oder Todesurteil erschossen wurde. Genau zum selben Zeitpunkt, als der Prozess in Moskau stattfand, bei dem Zetkin im Auftrag der KI eine Rede hielt, im Juni 1922, unterzeichnete in Deutschland Reichspräsident Friedrich Ebert einen Erlass, der die Todesstrafe für Gegner der herrschenden Ordnung vorsah. Wörtlich heißt es darin: „Personen, die an einer Vereinigung teilnehmen, von der sie wissen, daß es zu ihren Zielen gehört, Mitglieder einer im Amt befindlichen oder einer früheren republikanischen Regierung des Reichs oder eines Landes durch den Tod zu beseitigen, werden mit dem Tode oder mit lebenslangem Zuchthaus bestraft. Ebenso werden bestraft Personen, die eine solche Vereinigung wissentlich mit Geld unterstützen.“ – Dieser Verordnung zufolge hätten die Sozialrevolutionäre, die sich mit zaristischen Kräften und den Entente-Staaten verbündet hatten, um die sowjetische Regierung mit Terror und Attentaten auf Führungspersönlichkeiten wie Lenin gewaltsam zu stürzen, in der Weimarer Republik zum Tod verurteilt werden können. Zetkin hat nie Todesstrafen verlangt – Friedrich Ebert hingegen hat selbst Todesstrafen angeordnet. Die Ebertstraße aber soll keinen Knoten bekommen. Genauso wie die Wilhelmstraße, die nach König Wilhelm I. von Württemberg benannt ist, der die Todesstrafe wieder einführen ließ. Wie kann das sein?

Clara Zetkin fand in der Sowjetunion Schutz, als die Nazis in Deutschland begannen, politische Gegner und Andersdenkende wie sie zu verfolgen. Sie nahm aktiv Anteil an den Entwicklungen in der jungen Sowjetrepublik – was nicht heißt, dass sie keine Kritik geäußert hätte. Beispielsweise schrieb sie 1918 in einem Brief, dass im Zuge von Revolution und Bürgerkrieg manches geschehen sei, das „meines Erachtens hätte vermieden werden können und vermieden werden müssen, manches, das mir unbegreiflich dünkt, und das ich mißbilligen muß“. – In diesem Brief bedauerte sie übrigens auch explizit den „mörderischen Bruderkrieg, der zwischen den Sozialisten und den Sozialrevolutionären verschiedener Richtungen tobt“.

Niemand behauptet, Zetkin sei fehlerfrei gewesen oder habe immer richtig gelegen. Aber es ist überhaupt nicht hinnehmbar, dass ausgerechnet sie, die international geachtete Vorkämpferin gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung, gegen Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Faschismus und Krieg, in Tübingen in eine Reihe mit den rechten und faschistischen Demokratiefeinden, gegen die sie ankämpfte, gestellt werden soll!

Tübingen, 25.09.2023

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