26. OKTOBER
In seiner Sitzung am 26. Oktober 2023 entschied der Tübinger Gemeinderat: Die Clara-Zetkin-Straße wird nicht mit einem „Knoten“ als „kritikwürdig“ markiert; die Bismarck-Straße hingegen, für welche vonseiten der Kommission oder der Stadt nie eine entsprechende Empfehlung gemacht worden ist, soll eine solche Markierung erhalten.
Eine Beschlussvorlage des Kulturamts sah vor, die Entscheidung über die „Knoten“ bereits am 5. Oktober lediglich vom Ausschuss für Kultur, Bildung und Soziales „im Kleinen“ fällen zu lassen. Die Tübinger Linke im Gemeinderat forderte, dass der gesamte Gemeinderat bei seiner Sitzung am 26. Oktober entscheiden solle. In der Begründung heißt es: „Die Entscheidung ist von besonderer Bedeutung, da diese Knotenvergabe und ihre aufklärerische Wirkung in der Tübinger Öffentlichkeit umstritten ist.“ Diesem Antrag der Linksfraktion wurde im Kulturausschuss am 5. Oktober mit großer Mehrheit zugestimmt.
Am 21. September veröffentlichte die Kommission zur Überprüfung der Tübinger Straßennamen eine Stellungnahme, in der sie uns uninformierte und unsachliche Kritik und persönliche Diffamierungen unterstellte. Das Bündnis sah sich gezwungen, einige Dinge richtigzustellen und verfasste in Reaktion darauf ebenfalls eine Eingabe. Diese wurde am 26. September offiziell von der Linksfraktion an die Geschäftsstelle des Gemeinderates übergeben, die sie an die Ratsmitglieder verschickt hat. Am 27. September erklärte die Geschichtswerkstatt Tübingen in einer Stellungnahme an den Gemeinderat, dass sie sich den Argumenten unseres Aktionsbündnisses anschließt.
ANTRÄGE
Vor der Gemeinderatssitzung am 26. Oktober reichten verschiedene Fraktionen Anträge ein. Zunächst formulierte am 19. September die Linksfraktion einen Änderungsantrag, wonach die Clara-Zetkin-Straße „keine Knoten-Markierung am Straßenschild“ erhalten soll. Zetkins „Mitwirkung“ am Prozess im Jahr 1922 in Moskau werde in der Beschlussvorlage des Kulturamts verzerrt dargestellt. Der Antrag stellt fest: „Clara Zetkin war nie an Verbrechen beteiligt.“ An Bismarcks Händen hingegen klebe Blut. Deshalb kündigte die Linksfraktion an, falls der Rat eine Markierung für die Clara-Zetkin-Straße entscheide, ebenfalls eine für die Bismarckstraße beantragen zu wollen.
Als nächstes beantragte am 2. Oktober die SPD, die Stadt solle auf die Anbringung eines „Knotens“ bei der Clara-Zetkin-Straße verzichten; allerdings nicht, weil die Partei den in der Beschlussvorlage des Kulturamts vorgebrachten Vorwürfen gegen Zetkin widersprochen hätte, im Gegenteil, im SPD-Antrag heißt es sogar: „Den in der Verwaltungsvorlage zu Zetkin gemachten Ausführungen ist zuzustimmen.“ Die SPD kritisierte lediglich, dass auch „weitere Biographien von Menschen, die in Tübingen mit Straßennamen geehrt werden und bei denen von Kommission und Verwaltung kein Knoten empfohlen wird“, wie Bismarck oder König Wilhelm, „solche Ambivalenzen“ aufweisen würden, und man bestrebt sein sollte, „nicht mit zweierlei Maß zu messen“.
Erst am 25. Oktober reichte die AL/Grüne-Fraktion ebenfalls einen Antrag ein, in dem sie sich dem Antrag der SPD anschloss. Auch die Grünen übten keinerlei Kritik an den historisch unhaltbaren Aussagen der Kommission zur Überprüfung der Tübinger Straßennamen über Zetkin; in ihrem Antrag heißt es vielmehr, die Kommission habe „mit ihrem Bericht eine gründliche Arbeit vorgelegt“.
In dem Zusatzantrag, den die Gemeinderatsfraktion „Die Fraktion“ noch einreichte, ging es um andere Straßen; Clara Zetkin wurde darin nicht erwähnt.
DIE SITZUNG
„Wir verwahren uns gegen die Diffamierungen“, beeilte sich Dagmar Waizenegger vom Kulturamt zu sagen, als der Tagesordnungspunkt „Kommentierung von Straßennamen durch Knoten“ an die Reihe kam. Sie beklagte sich über den „Umgang mit Wissenschaftlern“ und die „bewusste Emotionalisierung und Skandalisierung“, die das Aktionsbündnis ihrer Ansicht nach betrieben haben soll. Bis heute hätte kein „ausgebildetes Gremium“ die „Behauptungen“ unseres Bündnisses belegt. Unsere Argumente, wurde sie am Tag nach der Sitzung vom nd zitiert, seien „keine fundierte Gegendarstellung, da sie von Personen kommen, die nicht an den Universitäten forschen“. Die Kommission hingegen bestehe aus Experten „mit ‚fundierter Ausbildung‘ und ebensolcher ‚Expertise‘, selbstverständlich von ‚politischer Neutralität‘ getragen“, so die Wochenzeitung Kontext, die Dagmar Waizenegger weiterhin mit den Worten zitiert: „Es wäre ein ‚fatales Zeichen‘ für die Stadt, wenn ihre Kompetenz in Frage gestellt würde und das ‚verbissene Ringen um die Deutungshoheit‘ zugunsten der Kommunistin ausginge.“
„Eine deutliche Mehrheit der Fraktionen im Gemeinderat betonte in ihren Stellungnahmen den Wert der Arbeit der Straßennamenkommission und der städtischen Kulturverwaltung“, berichtet der Blog „Erinnern vor Ort“. Stadtrat Martin Sökler (SPD) – für den, „obwohl“ sie den Kommunismus unterstützt habe, Zetkins „herausragende Leistungen“ überwiegen –, hielt Waizenegger zwar entgegen, dass es falsch sei, von „akademischen Weihen“ abhängig zu machen, ob man Diskussionsbeiträge ernst nehme oder nicht, äußerte aber seinen „Respekt“ gegenüber der Kommission. Seine Parteikollegin Andrea Le Lan verstieg sich sogar zu der Aussage, allein schon, wenn man einer wissenschaftlichen Kommission attestiere, in einem bestimmten Punkt nicht wissenschaftlich gearbeitet zu haben, wie das Aktionsbündnis es getan hat, gehe das bereits in „Richtung Diffamierung“.
Die stellvertretende Gemeinderatsvorsitzende Susanne Bächer (AL/Grüne) bezeichnete die Debatte als einen „Kulturkampf“ und sprach von der „anerkennenswerten“ Arbeit der Kommission. Vorwürfe gegen sie seien „nicht angebracht“ und für die „Zusammenarbeit zwischen Stadt und Universität nicht förderlich“. CDU-Stadträtin Prof. Dr. Ulrike Ernemann dankte „in einer Art Ergebenheitsadresse an Verwaltung und Kommission“, so die Kontext-Wochenzeitung, Frau Waizenegger persönlich für ihren „großen Beitrag“; die Kommission bestünde aus „namhaften, glaubwürdigen Experten“, die „viel nachgedacht“ hätten, weshalb die CDU „sehr gerne“ dem Vorschlag der Verwaltung Folge leiste. Solide Expertise in Zeiten schneller Nachrichten und Fake-News sei „ein Wert für sich“, meinte die CDU-Frau, sogar die Worte „Näherung an Wahrheit“ fielen. Nur wenige Tage zuvor hatten wir nachgewiesen, dass die Stadtverwaltung in Person Dagmar Waizeneggers den Gemeinderat, die Presse und die Öffentlichkeit belogen hatte.
Über das Gebaren der FDP berichtet Kontext: „Der alteingesessene FDP-Rat Dietmar Schöning zitiert mit der Brille auf der Nasenspitze langatmig aus zwei zeitgenössischen Artikeln zum Prozess gegen die Sozialrevolutionäre. Einerseits aus dem KPD-Organ ‚Rote Fahne‘, andererseits aus ‚Der Sozialdemokrat‘, wohl, um zu beweisen, wie unterschiedlich man eine Sache bewerten kann. ‚Grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien‘ seien seinerzeit wohl nicht zur Anwendung gekommen. Und nein, ‚die ganze Diskussion‘ habe ihm gar nicht gefallen.“ Uns bleibt nur zu ergänzen, dass Schöning dann ernsthaft meinte, das Aktionsbündnis habe es sich „zu einfach gemacht“, durch den Bericht der Kommission sei man „am besten beraten“ – auf den Prozess von 1922 etwa seien wir „kaum eingegangen“. Bemerkenswert: Nicht nur sind wir in unserem Fact Sheet und hier auf unserer Website ausführlicher, genauer und quellenbasierter auf den Prozess eingegangen, als es die Kommission jemals getan hat, wir hatten Herrn Schöning am Rande der Sitzung des Kulturausschusses am 5. Oktober sogar persönlich angeboten, ihm das reichliche Quellenmaterial zum Prozess, über das wir verfügen, direkt zur Verfügung zu stellen, was er dankend ablehnte.
Letzten Endes blieb die Linksfraktion die einzige, die am Vorgehen von Kommission und Kulturamt Kritik übte. Deren Vorsitzende Gerlinde Strasdeit widersprach den Behauptungen Waizeneggers und stellte klar: „Ich lasse mir von niemanden vorwerfen, wir hätten diese Kommission unflätig behandelt. Für uns Linke gilt das nicht, und für das Aktionsbündnis ‚Kein Knoten für Zetkin‘ gilt das auch nicht.“ Auch die Gemeinderatsfraktion „Die Fraktion“ lobte die „gute Arbeit der Kommission“. Dennoch wollte aber auch sie der Empfehlung der Historiker nicht folgen: Bei Zetkin seien „nicht genug ethische Problemfelder“ erkennbar, die Verdienste würden die „Verfehlungen“ überwiegen. Immerhin: Nachdem trotz all der Lobgesänge auf Kommission und Kulturamt eine sehr deutliche Mehrheit im Gemeinderat gegen einen „Knoten“ für Zetkin stimmte und die Linksfraktion daraufhin ihren Antrag, die Bismarckstraße mit einer solchen Markierung zu versehen, zurückzog, griff „Die Fraktion“ diesen Antrag spontan auf, wodurch im Gemeinderat urplötzlich eine Abstimmung über einen „Knoten“ für Bismarck stattfand – und tatsächlich wurde dieser dann mit einer knappen Mehrheit beschlossen. Oberbürgermeister Boris Palmer kritisierte noch in der Sitzung, dass diese Entscheidung „ohne jede Begründung“ getroffen worden sei.
Kontext schrieb: „Gemeinderat: Ja, aber doch nicht“ – das trifft es ganz gut. Man muss sich schon fragen, wie es denn sein kann, dass Kommission und Kulturamt von einer absoluten Mehrheit im Gemeinderat geradezu über den grünen Klee gelobt werden, dann aber 20 von 32 anwesenden Stimmberechtigten deren Empfehlungen gar nicht folgen und gegen einen „Knoten“ für Zetkin stimmen. Da es sieben Enthaltungen gab, haben überhaupt nur fünf Gemeinderatsmitglieder für eine Einordnung der Clara-Zetkin-Straße als „kritikwürdig“ gestimmt. Auch bei weiteren Straßen folgte der Rat nicht den Empfehlungen der Kommission, stimmte er entgegen der Beschlussvorlage des Kulturamts ab. Wie passt das zusammen?
„Es ist krass, dass unser Protest bis in die Sitzung hinein diffamiert wurde, obwohl wir von Anfang an mit wissenschaftlichen Fakten argumentiert haben“, so unsere Sprecherin gegenüber der Presse kurz nach der Sitzung. Wir stören uns daran, dass, obwohl unser Fact Sheet, in dem wir Fehler der Kommission nachgewiesen haben, bereits im Februar 2023 an alle Gemeinderatsmitglieder ging, kaum Kritik an der Arbeit der Kommission zu hören war, hingegen ein Infragestellen von „Experten“ mit akademischen Titeln generell als unangemessen und unangebracht bezeichnet wurde. Zudem wurde dem Aktionsbündnis weiterhin unterstellt, es sei beleidigend und nicht sachlich vorgegangen – ohne dass dafür jemals Belege oder auch nur ein einziges Beispiel angeführt worden wäre. Dass den Gemeinderatsmitgliedern herzlich egal war, dass Behauptungen der Kommission über Zetkin nachweislich falsch waren und sie selbst von der Stadtverwaltung getäuscht worden sind, ist ein Skandal. Anhand dieses kleinen Themas auf lokaler Ebene wird einiges deutlich: Ganz offensichtlich spielen persönlicher Ruf, Ansehen und Beziehungen eine größere Rolle als eine demokratische und sachliche Vorgehensweise im Sinne von Transparenz und Wahrheit.
Wir freuen uns aber natürlich, dass wir als Aktionsbündnis unser erklärtes Ziel erreicht haben. Mit unserem Protest haben wir auch ein deutliches Zeichen an den bürgerlichen Wissenschafts- und Politikbetrieb gesendet: Wir schauen genau hin und lassen es nicht zu, dass unter dem Deckmantel vorgeblicher Neutralität die Geschichte verdreht wird. Clara Zetkins Kampf um Befreiung, gegen Faschismus und Krieg muss verteidigt und weitergeführt werden.
DIE VORLAGE
Auffällig an der Beschlussvorlage des Kulturamts war, dass der Teil über Clara Zetkin sich plötzlich in wesentlichen Punkten völlig von der ursprünglichen Darstellung im Abschlussbericht der Kommission zur Überprüfung der Tübinger Straßennamen und auf der Website der Stadt unterschied. Wenn es nach den Plänen des Kulturamts gegangen wäre, hätte also der Gemeinderat über etwas anderes entschieden, als ursprünglich zur Diskussion gestellt und auch monatelang diskutiert worden war, ohne dass die Öffentlichkeit darüber in Kenntnis gesetzt worden wäre. Am Text wird deutlich, dass hier ganz offensichtlich versucht wurde, die Kritikpunkte unseres Aktionsbündnisses rhetorisch zu umschiffen. Eine öffentliche Revision oder Erklärung gab es dazu aber nicht. Für uns warf dies Fragen auf: Konnte der Abschlussbericht der Kommission hinsichtlich der Behauptungen über Zetkin damit als überholt angesehen werden? Sollte die Öffentlichkeit darüber irgendwann noch in Kenntnis gesetzt werden? Diese Fragen stellten wir am 11. September dem Kulturamt und der Kommission auf schriftlichem Weg – Antwort: Keine.
WORTLAUT
Im Wortlaut heißt es in der Beschlussvorlage des Kulturamts: „Clara Zetkin (1857-1933) gehört zu jenen Persönlichkeiten, deren Biografie sehr große Leistungen aufzuweisen hat. Sie enthält aber auch Elemente, die kritisch betrachtet werden müssen. Die Frauenrechtlerin, Pazifistin und Gegnerin des Nationalsozialismus hat sich durch ihren Einsatz und ihre Erfolge für die Arbeiter- und Frauenbewegung und im Kampf gegen Monarchie und Militarismus große Verdienste erworben. Anderseits wandte sie sich gegen die demokratischen Prinzipien der Weimarer Republik. Zetkin befürwortete eine Einparteiendiktatur ohne Gewaltenteilung. Besonders problematisch ist, dass Zetkin auf Einladung der kommunistischen Machthaber 1922 an einem Prozess in Moskau mitwirkte. Dort wurden politische Gegner in einem Verfahren ohne rechtsstaatliche Grundlage und Möglichkeit zur fairen Verteidigung zur Todesstrafe verurteilt. Zetkin erklärte sich als Anklägerin mit diesem Urteil solidarisch. Zwar setzte sie sich dafür ein, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wurde. Gleichzeitig begrüßte und begründete sie ausführlich, dass im Prozess auf grundsätzliche rechtsstaatliche Prinzipien verzichtet wurde.“
DER PROZESS
Im Abschlussbericht der Kommission heißt es über Zetkin: „So plädierte sie im Sommer 1922 als Anklägerin im Moskauer Schauprozess für die (letztlich nicht vollstreckte) Todesstrafe gegen eine Gruppe sogenannter Sozialrevolutionäre.“ Diese haltlose Behauptung der Kommission wurde vom Kulturamt gestrichen. Stattdessen wurde im Antrag dann behauptet, Zetkin habe sich „als Anklägerin mit diesem Urteil solidarisch“ erklärt. Doch auch diese Behauptung ist irreführend und falsch.
Was Kulturamt und Kommission geflissentlich verschwiegen haben: Clara Zetkin hat sich keineswegs als Anklägerin für Todesstrafen ausgesprochen; anders als von der Kommission behauptet, findet sich in ihrer Anklagerede keine solche Forderung. Im Gegenteil hat sie sich, wie zahlreiche historische Quellen belegen, im Rahmen des Prozesses stets gegen drohende Todesurteile eingesetzt. Die Kommission zitierte aus einer 94 Seiten starken Publikation Zetkins mit dem Titel Wir klagen an (1922), die nach dem Prozess erschienen ist. Am Ende dieses Buches schreibt Zetkin dort im Namen der Kommunistischen Internationale (KI): „Wir stehen solidarisch zu dem Urteil des Obersten Revolutionsgerichts und zu der Entscheidung der Sowjetregierung“; den Teil „und zu der Entscheidung der Sowjetregierung“, der sich auf den Beschluss bezieht, die Todesurteile auszusetzen, verschwieg die Kommission – ein unwissenschaftliches und manipulatives Vorgehen. Bereits ganz vorne im Buch heißt es, die KI stehe „zu dem Spruch des Obersten Revolutionsgerichts gegen die angeklagten Sozialrevolutionäre und zu dem Beschluß der Sowjetregierung, nach dem die ausgesprochenen Todesurteile nicht vollstreckt“ würden. Wir halten fest: Das Zitat stammt gar nicht aus der Anklagerede, die Zetkin im Sommer 1922 gehalten hat – sie hätte sich ja auch schlecht vor der Urteilsverkündigung mit dem noch gar nicht gesprochenen Urteil „solidarisch“ erklären können –, Zetkin spricht hier auch nicht für sich selbst, sondern im Auftrag der KI, das heißt für die Gesamtheit der kommunistischen Parteien weltweit, und wo Letztere sich mit dem Urteil „solidarisch“ erklärten, geschah dies ausschließlich in direktem Zusammenhang mit dem Hinweis auf die Aussetzung der Todesstrafen.
Zetkin hat also niemals Todesurteilen das Wort geredet – weder hat sie im Voraus dafür plädiert, noch hat sie sie später einfach gutgeheißen. Die Darstellung von Kommission und Kulturamt ist manipulativ, irreführend und historisch und wissenschaftlich nicht haltbar. Die Tatsache, dass Zetkin sich im Rahmen des Prozesses, wie in der Beschlussvorlage des Kulturamts auch eingeräumt wird, sogar vehement dafür einsetzte, „dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wurde“, wurde auch in der Vorlage weiterhin marginalisiert. Dabei ist es ihrem Einsatz zu verdanken, dass die Entscheidungsträger die Todesurteile aussetzen ließen. Dafür setzte sie sich ein, unter anderem in einem Brief an die russische Regierung, und überzeugte Trotzki und die anderen Entscheidungsträger davon. Zahlreiche historische Quellen bestätigen das; einige haben wir in unserem Fact Sheet genannt. Auch Trotzki selbst berichtet 1930 in seiner Autobiografie, Zetkin habe ihm gegenüber darauf „bestanden“, man müsse „das Leben der Angeklagten schonen“. Das Resultat ihrer Teilnahme an diesem Prozess war also, dass die Angeklagten vor der Todesstrafe bewahrt wurden! Diese Begebenheit in Zetkins Biografie und ihre Rolle darin wurde verdreht dargestellt und gegen sie verwendet.
DEMOKRATIE
Im Antrag heißt es, es müsse kritisch betrachtet werden, dass Zetkin „sich gegen die demokratischen Prinzipien der Weimarer Republik“ wandte. Was genau bedeutet dies? Die revolutionäre Erkämpfung bürgerlicher Demokratie und die damit einhergehende Gründung der Republik als Form des Nationalstaats stellte gegenüber der feudal-klerikalen Herrschaft einen Fortschritt dar; das sah auch Zetkin so. „Gewiss, wir gehen mit der Mehrheit der Reichstagsabgeordneten einig in der Auffassung, dass die Republik geschützt werden muss“, sagte sie beispielsweise 1921 in einer Rede als Abgeordnete. Zetkin riskierte sogar ihr eigenes Leben, um die bürgerliche Demokratie gegen die drohende faschistische Barbarei zu verteidigen. Wenn mit „demokratischen Prinzipien“ gemeint wäre, dass ein gutes Leben für alle Menschen, Schutz vor Unterdrückung, Diskriminierung, Ausbeutung und Gewalt, nachhaltige Sicherung der Lebensgrundlagen, Teilhabe und ein solidarisches Miteinander gewährleistet werden sollen – dann war Clara Zetkin sicherlich eine der leidenschaftlichsten Verfechterinnen der Demokratie. Zugleich übte sie Kritik an der bürgerlichen Demokratie, die bis heute nicht an Bedeutung verloren hat. 1918 schrieb sie: „Die politische Gleichberechtigung, die politische Demokratie, bleibt eine formale, äußerliche und unvollkommene Sache, solange sie nicht die wirtschaftliche Gleichheit als Grundlage hat. Diese feste, unerschütterliche Grundlage ist in der bürgerlichen Ordnung des Kapitalismus nicht vorhanden.“
Zetkin wies darauf hin, dass in der bestehenden bürgerlichen Demokratie im kapitalistischen Nationalstaat unter dem Deckmantel der Wahlfreiheit die Profitmaximierung zulasten der Natur und der übergroßen Mehrheit der Menschen verteidigt wird und trotz formaler politscher Gleichberechtigung letztlich ökonomische Macht die Verhältnisse diktiert. Sie verstand, dass die genannten demokratischen Prinzipien nicht verwirklicht werden können, solange sie innerhalb einer ausbeuterischen wirtschaftlichen Ordnung existieren, sondern diese letztlich undemokratische Praxis decken. Für sie bedeutete dies: Um tatsächlich demokratische Prinzipien zu verwirklichen, muss die bestehende „Demokratie“ kritisiert und auf die Ökonomie erweitert werden.
In der Weimarer Republik wurden übrigens tausende Linke, die für eine bessere Gesellschaft stritten, umgebracht, oft unter Rückgriff auf rechte Freikorps; darunter Zetkins enge Freundin und Genossin Rosa Luxemburg, die 1919 mit Wissen und Duldung der SPD-Regierung und ganz ohne Prozess oder Todesurteil erschossen wurde. Im Juni 1922, also genau zu dem Zeitpunkt, als der Prozess in Moskau stattfand, bei dem Zetkin eine Rede hielt, erließ der SPD-Reichspräsident Friedrich Ebert eine Verordnung, die die Todesstrafe für Gegner der herrschenden Ordnung vorsieht, die er verwaltete. Im Gegensatz zu Zetkin hat Ebert also persönlich Todesstrafen für Oppositionelle angeordnet; die Tübinger Ebertstraße aber soll keinen „Knoten“ bekommen – genauso wenig wie die Wilhelmstraße, die nach König Wilhelm I. von Württemberg benannt ist, der die Todesstrafe wieder einführen ließ.
„DIKTATUR“
Clara Zetkin hielt eine Veränderung der bestehenden kapitalistischen „Ordnung“ für notwendig – und ihr war klar, dass deren Profiteure nicht freiwillig auf ihren Profit verzichten würden. Darauf gründeten sich ihre Ansichten über die „Diktatur des Proletariats“. Der Begriff ist als Gegenbegriff zur herrschenden „Diktatur des Kapitals“ zu verstehen. In der marxistischen Staatstheorie ist der Staat das Machtinstrument der jeweils ökonomisch herrschenden Klasse. Die bürgerliche Demokratie stellt zwar einen Fortschritt gegenüber der monarchistisch-absolutistischen Gesellschaftsordnung dar, ist aber ebenfalls noch Klassengesellschaft, und als solche dient der bürgerliche Staat als Unterdrückungsinstrument der Bourgeoisie. Mit dem Begriff der „Diktatur des Proletariats“ beschrieben Marx und Engels eine Phase der Herrschaft der Arbeiterklasse als der absoluten gesellschaftlichen Mehrheit über die Minderheit der enteigneten Kapitalisten. Als Beispiel dafür nannten sie die Rätedemokratie der Pariser Kommune. Der Ausdruck beschreibt keine „Einparteiendiktatur“, sondern die politische Herrschaft der Massen, in der Arbeiter- und Bauernräte (Sowjets) eine wichtige Rolle spielen. Im Vergleich zu den Zuständen vor der sozialistischen Revolution, die sich durch die Herrschaft einer Minderheit von Besitzenden auszeichnen, bedeutet die politische Herrschaft des Proletariats also mehr Volksbeteiligung, mehr Demokratie. Zetkin forderte keine „Einparteiendiktatur“, sondern eine Rätedemokratie, die sich im Vergleich zur repräsentativen parlamentarischen Demokratie durch mehr direkte Demokratie und Partizipation auszeichnet. Noch 1932 wünschte sie sich in ihrer Rede als Alterspräsidentin des Reichstags für Deutschland einen „Rätekongreß“.
Clara Zetkin fand in der Sowjetunion Schutz, als die Nazis in Deutschland begannen, politische Gegner und Andersdenkende wie sie zu verfolgen. Sie nahm regen Anteil an den Entwicklungen der jungen Sowjetrepublik – was nicht heißt, dass sie keine Kritik geäußert hätte. 1918 schrieb sie in einem Brief, dass sie im vom Bürgerkrieg geprägten Land auf der „Schuldseite manches verzeichnet finde, das mich schmerzt, peinigt, das meines Erachtens hätte vermieden werden können und vermieden werden müssen, manches, das mir unbegreiflich dünkt, und das ich mißbilligen muß“. Sie bedauerte auch explizit den „mörderischen Bruderkrieg, der zwischen den Sozialisten und den Sozialrevolutionären verschiedener Richtungen tobt“, und dass sich „nicht alle sozialistischen und sozialrevolutionären Fraktionen zu einer Macht zusammengefunden haben“. Die Sozialrevolutionäre hatten sich mit zaristischen Kräften und den Entente-Staaten verbündet, um die sowjetische Regierung gewaltsam zu stürzen, mit Terror und Attentaten auf Führungspersönlichkeiten wie Lenin. Dieser starb 1924 an den Folgen eines solchen Attentats.
Auch heute muss selbstverständlich darüber diskutiert werden, welche Fehler in diesem historischen Prozess gemacht wurden, als, wie Clara Zetkin schrieb, „sozialistische Grundsätze von den gesellschaftlichen Dingen aus dem luftigen Reich der Ideen in die harte Wirklichkeit“ übertragen wurden. Nicht hinnehmbar ist jedoch, dass ausgerechnet sie als Vorkämpferin gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung, gegen Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Faschismus und Krieg in eine Reihe mit den rechten und faschistischen Demokratiefeinden, gegen die sie ankämpfte, gestellt wird!
OBJEKTIV?
Die Kommission stellte sich als „neutral“ und „objektiv“ dar. Wenn wissenschaftliche Neutralität heißt, offen für Argumente zu sein, so wurde sie ihrem Anspruch alles andere als gerecht. Unser Fact Sheet haben wir auch den Kommissionsmitgliedern und dem Kulturamt bereits im Februar 2023 geschickt. Eine Antwort haben wir nie bekommen. Wir wurden ignoriert, die Verantwortlichen hielten stur an den einmal erhobenen Vorwürfen fest, obwohl wir sie widerlegt hatten – das ist nicht wissenschaftlich. Anstatt die Fehler, die gemacht worden sind, zuzugeben und zu revidieren, wurde versucht, diese zu vertuschen. Beispielsweise entfernte die Stadt im Mai das Online-Formular zum „Mitdiskutieren“ von ihrer Website und löschte die Statements, die bereits eingegangen waren. In einer am 21. September veröffentlichten Stellungnahme beklagte die Kommission sich lieber über angebliche „Diffamierungen gegen ihren Vorsitzenden“, als wirklich auf Argumente einzugehen. Wir haben nie jemanden diffamiert, sondern ausschließlich sachlich und mit Verweis auf nachprüfbare historische Quellen argumentiert. In Wahrheit hat die Kommission sich selbst diskreditiert: Alle Mitglieder haben die Stellungnahme des Vorsitzenden Dr. Großmann unterzeichnet, in der es heißt, Zetkin habe sich im Prozess 1922 als Anklägerin „in ihrem Plädoyer solidarisch mit dem Urteil“ erklärt und „damit faktisch für die Todesstrafe plädiert“. Wie so etwas überhaupt möglich sein soll, wird nicht erklärt – schließlich wird eine Anklagerede logischerweise vor der Urteilsverkündung gehalten. Was soll man davon halten, dass solch offenkundiger Unsinn in der Kommission niemandem aufgefallen ist?
Dass Dagmar Waizenegger vom Kulturamt nie müde wurde, die „wissenschaftliche Integrität“ der von ihr eingesetzten Kommission zu betonen, dem Gemeinderat aber eine Beschlussvorlage vorlegte, in welcher der Teil über Zetkin in wesentlichen Punkten plötzlich vom Kommissionsbericht abwich, spricht ebenfalls für sich. Als sich am 27. September die Geschichtswerkstatt Tübingen den Argumenten des Aktionsbündnisses anschloss, wandte sie sich „mit Erstaunen und Befremden“ an die Presse und beschwerte sich: „Im Sinne einer konstruktiven Auseinandersetzung wäre es notwendig gewesen, früher auf uns und die Mitglieder der Kommission zuzukommen.“ Nun – wir sind sehr früh mit sachlichen Argumenten und historischen Quellen auf Kommission und Kulturamt zugegangen, wurden aber ignoriert. Und wir waren beileibe nicht alleine mit unserer Kritik. Aber offensichtlich wurde diese Kritik nicht ernst genommen, da sie größtenteils von Personen kam, die, um es mit den Worten Waizeneggers auszudrücken, „nicht an den Universitäten forschen“. Deutlicher kann eine durch und durch elitäre Einstellung wohl kaum zum Ausdruck gebracht werden.
„Beurteilungen sind abhängig von zeitgenössischen Einschätzungen und Moralvorstellungen und werden uns daher auch zukünftig beschäftigen“, meint die Kommission – dies sehen wir ebenfalls anders. Gewalt, Ausbeutung und Diskriminierung wurden und werden sicherlich von denjenigen, die in der herrschenden Ordnung profitieren, verteidigt und zu legitimieren versucht. Doch zu jeder Zeit gab es auch Menschen, die es erkannten und anprangerten, wenn sie Unterdrückung und Ausbeutung erlebten und beobachteten – dies gilt für Kolonialismus und Sklaverei, Rassismus, Unterdrückung von Frauen, Antisemitismus und Faschismus gleichermaßen. Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte sind diese Verhältnisse mehr oder weniger verwerflich als heute. Das Einzige, was sich ändert, sind die Machtverhältnisse und damit die Deutungsmacht darüber, was legitim und rechtens ist, und was nicht. Ein relativistischer Standpunkt versucht lediglich, das Messen mit vielerlei Maß zu rechtfertigen und sich so aus der historischen Verantwortung für die eigene Haltung zu ziehen.